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„Die Wissenschaft vom Künstlichen“ – zum Designbegriff bei Herbert A. Simon

Aufsatz über den Designbegriff von
Herbert A. Simon in »Die Wissenschaft vom Künstlichen«

Herbert A. Simon gilt als einer der Pioniere im Forschungsgebiet der „Künstlichen Intelligenz“. Mit großer Euphorie entwickelte er gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern ab den 1950er Jahren erste theoretische Ansätze zur Simulation menschlicher Intelligenz mit dem Computer. Aufgrund seiner vielfältigen Interessen leistete er jedoch auch in anderen Bereichen, beispielsweise den Wirtschaftswissenschaften oder der Organisationsforschung, Pionierarbeit. Die Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften zeigt die hohe Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit.

Das erstmals vom Massachusetts Institute of Technology veröffentliche Buch »The Science of the Artificial« fasst verschiedene Vorlesungen und Aufsätze von Simon zusammen. Das verbindende Element seiner Arbeiten aus den Bereichen Wirtschaftswissenschaft, Erkenntnistheorie, Soziologie und Ingenieurswissenschaft sieht der Autor im „Design“, also in der Fähigkeit des Menschen die Dinge nicht nur so zu sehen, wie sie sind, sondern auch so, wie sie sein könnten. Diese Sichtweise ist nicht nur aufgrund der Verwendung des Begriffs für designtheoretische Fragestellungen interessant. Simons Modell des Künstlichen, wie auch seine Ansätze zum Umgang mit Komplexität oder seine Problemlösungsstrategien, bieten vielfältige Anknüpfungspunkte für designtheoretische Diskussionen.

Simon sieht die Dominanz der Naturwissenschaften kritisch, beklagt, dass die Ingenieurschulen zu Physik- und Mathematikschulen geworden sind, medizinische Schulen zu Schulen der biologischen Wissenschaft, Wirtschaftsschulen zu Schulen finiter Mathematik (Simon 1994: 95). In all diesen Bereichen herrsche ein Denken vor, das sich nur damit befasst, wie die Dinge funktionieren und nicht, wie man mit ihnen bestimmte Ziele erreichen könne. Im Gegensatz dazu stellt er den Prozess des Entwerfens und somit auch das Wissen darüber, als eine zentrale Leistung menschlicher Intelligenz heraus. Eine Sichtweise, der man als Designer ohne Einschränkung zustimmen kann.

Doch trotz seiner kritischen Haltung den Naturwissenschaften gegenüber kann sich Simon meiner Meinung nach nie ganz von der Macht der Zahlen trennen. In vielen Passagen seiner Texte herrscht eine deterministische Denkweise vor, nach der alle Ereignisse nach feststehenden Gesetzen ablaufen, alles durch diese Gesetze vollständig bestimmt bzw. determiniert werden kann. Darum ist es für Simon auch ohne Weiteres vorstellbar, »auf die Musik einige derselben Techniken des automatischen Entwurfs durch den Computer anzuwenden, wie sie in anderen Bereichen Anwendung gefunden hat« (Simon 1994: 118). Sicher hatte er dabei die Vorstellung, dass der Computer mit seiner stark wachsenden Informations-Verarbeitungs-Kapazität in naher Zukunft mittels „Künstlicher Intelligenz“ Entwurfsprozesse komplett simulieren könnte. Bei der Lösung von technischen Problemen kann man sich dies heute vielleicht ansatzweise vorstellen, aber lässt sich ein Gedicht, ein Gemälde oder der Entwurf eines Sofas komplett vom Computer errechnen? Sicher, ein Computer kann Töne erzeugen und manipulieren oder Bilddaten in neue Erscheinungsformen umrechnen. Dies geschieht jedoch auf der Ebene der Funktion der Programme und nicht aufgrund einer Intention. Ein schöpferischer Aspekt kann einem Computer bzw. einem Programm meiner Meinung nach nicht zugeschrieben werden. Sieht man das spezifische des Produkt-Design-Prozesses im »Zusammenwirken von formalen Gestaltungsmitteln und deren semantischer Bedeutung im sozialen und kulturellen Kontext« (Steffen 200: 6), so scheint eine Berechnung dieser Zusammenhänge durch den Computer unwirklich. Neben dem Problem der Kenntnis von sozialen und kulturellen Zusammenhängen müsste ein solches Computerprogramm auch mit Kontingenzen umgehen können – ein sehr komplexes „Problemfeld“.

Sicher, der Computer hat die Ergebnisse von Gestaltung verändert – durch neue Möglichkeiten bei Entwurf, Darstellung und Realisierung sind neue Konzepte und neue Formen entstanden. Ebenso haben sich durch Computer, Telekommunikation und Internet gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge verändert. Gemäß dem radikalen Konstruktivismus kann eine solche Technologie jedoch nicht Entwicklungen hervorrufen oder bewirken. Ein System – egal ob psychisches oder soziales System – kann lediglich irritiert werden, und richtet durch die Autopoiesis seine eigenen System/Umwelt-Beziehungen daraufhin neu aus. So kann ich van den Boom auch nicht zustimmen, dass »der Computer die Denkweise der Designer, d.h. derjenigen, die sich dann als genuine Designer fühlen, radikal« (van den Boom 2002) verändern wird. Der Computer irritiert das System der Entwerfer, kann es jedoch nicht determinieren. Die Denkweise wird sich demzufolge in einem autopoietischen Prozess verändern, der Computer wird diese Veränderungen als Werkzeug und als Teil der Kultur mit anstoßen. So hat der Computer als Werkzeug die Praxis des Arztes und sein theoretisches Wissen verändert, nicht jedoch seine eigentliche Aufgabe, nämlich Krankheiten zu heilen. Sieht man die Produktsprache als das Spezifische des Designs an, so geht es darum, die Relation zwischen Mensch und Produkt in verschiedenen Zusammenhängen zu gestalten. Auch hier unterstützt der Computer als Werkzeug, kann das Erkennen der relevanten Informationen und die Art ihrer Mitteilung jedoch nicht selbstständig übernehmen.

So ist für mich eine Präzisierung des Produkt-Design-Begriffs von zentraler Bedeutung für die weitere Entwicklung der Designwissenschaften. Der sehr umfangreiche Designbegriff von Simon gilt für alle Bereiche, die es mit dem Seinsollen zu tun haben. So werden Ärzte, Ingenieure, Geschäftsleute, Politiker, Künstler etc. in die theoretische Betrachtung mit eingeschlossen. Bolz erachtet eine solch breite Basis für Designtheorie für sinnvoll, denn er bietet im Buch »Schlüsselwerke der Systemtheorie« (Bolz 2005: 129) als Übersetzung zu Simons »The Sciences of the Artificial« den Titel »Designwissenschaften« an. Aus der Perspektive Simons wäre diese freie Übersetzung sicher tragbar gewesen. Im Gegensatz dazu ist aus heutiger Sicht – bedenkt man die ständige funktionale Differenzierung von gesellschaftlichen Teilsystemen – jedoch auch eine Ausdifferenzierung des Begriffs für die Designwissenschaften nötig. Mir scheint der Ansatz evident, die kommunikativen Aspekte im Umgang mit Produkten ins Zentrum des Erkenntnisinteresses zu stellen. Dies bietet die Möglichkeit, die Kenntnisse der Produktsprache bzw. Product Semantics an die Systemtheorie anschlussfähig zu machen. Im Simonschen Sinne geht es beim Entwerfen von Artefakten oder Produkten dann eben nicht mehr nur um die naturwissenschaftlichen und technischen Details, sondern um die Gestaltung des User-Interfaces.

Literatur:
Bolz, Norbert (2005) Bausteine einer Designwissenschaft – Norbert Bolz über Herbert A. Simon, »The Science of the Artificial« (1969). in: Baeker, Dirk Hrsg. (2005) Schlüsselwerke der Systemteorie. Wiesbaden.
Simon, Herbert A. (1994) Die Wissenschaft vom Künstlichen. Wien, New York.

Steffen, Dagmar (2000) Design als Produktsprache – Der „Offenbacher Ansatz“ in Theorie und Praxis. Frankfurt am Main.

van den Boom, Holger (2002) Grundlagen? in: The Basic Paradox, http://www.verhaag.net/basicparadox/(überprüft am 18.06.2009)

© Thilo Schwer 2005

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Datum: Freitag, 3. April 2009 14:16
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